INTERVIEW MIT Benjamin Dewals

Wissenschaft und Politik
​​​​​​​im Einklang bringen

Prof. Benjamin Dewals, Professor für Wasserbau an der Universität Lüttich

Benjamin Dewals

Prof. Benjamin Dewals forscht im Bereich der Flusshydrodynamik und des hydrologischen Risikomanagements. Er ist einer der Leiter der Forschungsgruppe Hydraulik im Umwelt- und Bauingenieurwesen (HECE) an der Universität Lüttich. Die Gruppe ist auf hydrologische und hydrodynamische Modellierung spezialisiert. Sie entwickelt das akademische Berechnungsmodell WOLF und betreibt ein hydraulisches Labor. Prof. Dewals hat mehrere regionale, nationale und europäische Forschungsprojekte in den Bereichen urbane Hochwasserrisikomodellierung, Deichbrüche, Klimaanpassung und Resilienz sowie die Anwendung naturbasierter Lösungen zur Minderung von Fluss- und Starkregenüberschwemmungen geleitet.

Willkommen, Benjamin, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch nehmen. Könnten Sie den LeserInnen ein wenig über sich und die Rolle Ihres Instituts erzählen?

„Wir sind eine Gruppe von ForscherInnen, die sich auf hydrologische und hydrodynamische Modellierung spezialisiert hat. Einerseits entwickeln wir rechnergestützte Strömungsmodelle, um hydrologische Prozesse sowie die Hydrodynamik in Flussbetten und Überflutungsgebieten zu simulieren. Andererseits betreiben wir ein großes hydraulisches Labor, in dem wir physische Experimente durchführen. 


Unser hausinternes Modellierungssystem wurde über die letzten 20 Jahre entwickelt. Es umfasst alles von Niederschlag über hydrologische Strömungen im Einzugsgebiet, Flussströmungen, hydraulische Strukturen, Überflutungen und Fließprozesse in Überschwemmungsgebieten zwischen Gebäuden. Zudem entwickeln wir Komponenten für Schadensmodellierungen. Diese Modelle dienen der Forschung und zur Beratung von Interessengruppen und politischen Entscheidungsträgern. 


Zusätzlich zur Modellierung haben wir ein 1.000 Quadratmeter großes hydraulisches Labor, das uns hilft, komplexe Prozesse wie Turbulenz und Transport besser zu verstehen, die sich rechnerisch schwer modellieren lassen. Beispielsweise haben wir im Rahmen von JCAR ATRACE Experimente durchgeführt, um die Auswirkungen von Treibgut auf die Verstopfung von Brücken bei extremen Hochwassern zu untersuchen. Dabei wurden im Labor kleine Modelle von Brücken gebaut, und wir haben eine Vielzahl an maßstabsgetreuem Treibgut, das Baumstämme oder Container imitierte, ins Wasser eingebracht. Ein detailliertes Überwachungssystem zeichnete die Auswirkungen auf die Brücken und die Strömung auf. Diese Forschung, die ursprünglich im Rahmen anderer europäischer Projekte begonnen wurde, wird im Rahmen von JCAR ATRACE fortgesetzt. 


Seit etwa 10 Jahren organisieren wir außerdem das jährliche Internationale Maas-Symposium, das wir zusammen mit Deltares veranstalten. An diesem Symposium nehmen etwa 100 TeilnehmerInnen aus Wissenschaft, Wasserwirtschaft und Industrie teil, um Themen wie hydrologische und hydrodynamische Modellierung, Wasserwirtschaft und Umweltfolgen im Maasbecken zu diskutieren. Diese Veranstaltung passt gut zu den Zielen von JCAR ATRACE, die Zusammenarbeit zwischen Ländern und Regionen wie Wallonien, den Niederlanden und Teilen Deutschlands zu stärken.“ 

Ihr Institut hat nach den Überschwemmungen im Juli 2021 in Wallonien bedeutende Forschungsbeiträge geleistet. Könnten Sie uns mehr über die durchgeführte Forschung erzählen und wie sie dringende politische Fragestellungen adressiert?

„Natürlich. Es gibt drei Hauptaspekte: 


Erstens haben wir das von mir bereits erwähnte Rechenmodell WOLF (das für das umgekehrte „FLOW“ steht) weiterentwickelt. Nach den Überschwemmungen im Jahr 2021 haben wir das Modell mit den neuesten topographischen Daten aktualisiert. Erosion und andere dynamische Effekte hatten die Flussbetten und Überschwemmungsflächen verändert, daher haben wir neue Erhebungen genutzt, um diese Änderungen zu integrieren. Das Modell, das zuvor hauptsächlich für Forschungszwecke genutzt wurde, ist nun voll einsatzfähig und wird von Ingenieurbüros verwendet, um Maßnahmen zur Risikominimierung in den betroffenen Tälern zu entwickeln. 


Wir haben das Modell auch neu codiert, um es auf einem GPU-System auszuführen, was die Berechnungen erheblich beschleunigt. Außerdem haben wir umfangreiche Dokumentationen erstellt, um die Nutzung in politischen Entscheidungen und Stakeholder-Entscheidungen zur Risikominimierung zu unterstützen. 


Der zweite Aspekt ist die Felduntersuchung, die wir nach den Überschwemmungen initiiert haben. Wir sammelten Daten von etwa 420 Haushalten zu Schadenskosten, finanziellen Verlusten und den erhaltenen Entschädigungen. Wir sammelten auch Variablen, die uns helfen, die Schadensmechanismen zu verstehen, wie die Struktur und Materialien der Gebäude, die Wassertiefe während der Überflutung und die Strömungsgeschwindigkeit. Diese Variablen, kombiniert mit Informationen darüber, ob die Haushalte Warnungen erhalten haben oder präventive Maßnahmen ergriffen haben, liefern wertvolle Einblicke, die öffentliche Behörden und Versicherungen normalerweise nicht erfassen. 


Der dritte Aspekt betrifft die Auswirkungen von Treibgut. Wir führten Feldbeobachtungen durch und analysierten Hunderte von Fotos, um zu dokumentieren, wie Treibgut Brücken beeinflusste. Dies führte zu einer offenen Datenbank, die online verfügbar ist und für weitere Analysen genutzt werden kann. Wir führten auch Laborversuche zum Treibgut durch, wie bereits erwähnt, die im Rahmen von JCAR ATRACE fortgesetzt werden.“ 

Wir beobachten, dass das Wetter immer unberechenbarer wird, mit längeren Dürreperioden in den letzten Jahren und nun einem sehr feuchten Jahr 2024. Wie arbeitet Ihr Forschungsinstitut mit der lokalen Verwaltung, in diesem Fall dem Service public de Wallonie (SPW), zusammen, um sicherzustellen, dass die Region auf diese schwierigen Umstände vorbereitet ist?

„In mehreren aktuellen Forschungsprojekten ist SPW entweder Teil des Konsortiums oder tritt als assoziierter Partner auf. SPW bringt in die Forschungsprojekte wertvolle Daten sowie Erkenntnisse aus seinen Feldtätigkeiten ein, wie beispielsweise das operative Hochwasserrisikomanagement. Die Forschungsergebnisse liefern oft Empfehlungen für die Gestaltung und Belastungsprüfung von Risikominimierungsmaßnahmen, die wiederum das verbesserte Hochwasserrisikomanagement von SPW unterstützen. Vertreter von SPW, wie Frau Heindrichs, trugen aktiv zur Auftaktveranstaltung von JCAR ATRACE im letzten November in Maastricht bei.“

Was sind Ihrer Meinung nach die dringendsten Herausforderungen für Wasserwirtschaftsbehörden in kleineren grenzüberschreitenden Flusseinzugsgebieten in Wallonien?

„Eine wesentliche Herausforderung besteht darin, die Kette von Niederschlagsvorhersagen bis hin zu Hochwasserauswirkungsprognosen zu stärken. Während Regen- und hydrologische Vorhersagen üblich sind, ist die Vorhersage der Hochwasserauswirkungen entscheidend für das Katastrophenmanagement. Die Kenntnis der Abflussmenge in Kubikmetern pro Sekunde reicht nicht aus – Wasserwirtschaftsbehörden müssen wissen, welche Straßen überflutet werden, wie tief das Wasser steht und wie die Strömungsgeschwindigkeit variiert. Diese Informationen helfen den Rettungsdiensten zu entscheiden, ob sie bestimmte Gebiete erreichen können und ob Menschen evakuiert werden müssen. 


Im Jahr 2021 war dieses Detailniveau nicht verfügbar, was es schwierig machte, kritische Entscheidungen zu treffen. Die Verbesserung der Systeme zur Hochwasserauswirkungsprognose wird das Katastrophenmanagement erheblich verbessern und die Auswirkungen künftiger Hochwasser verringern.“ 

Könnten Sie reflektieren, wie das Wassermanagement in Wallonien organisiert ist?

„Ich bin Wissenschaftler und arbeite an Modellierungen, aber generell würde ich sagen, dass die Verbesserung der Risikokultur entscheidend ist. Eine bessere Kommunikation mit der Bevölkerung könnte beispielsweise mehr Menschen, einschließlich lokaler Behörden und Stakeholder, für Risiken sensibilisieren. Dies kann Leben retten, da allgemein bekannt ist, dass Menschen, die sich der Risiken bewusst sind, tendenziell Verantwortung übernehmen und selbst Maßnahmen zur Minderung oder zum Schutz ergreifen. Diese Bewusstseinsbildung verringert sowohl Schäden als auch Risiken für das Leben. 


Ein konkretes Beispiel aus einigen unserer Studien zeigt, dass das Ausmaß der Überflutung im Jahr 2021 weit über das hinausging, was auf offiziellen Hochwassergefahrenkarten dargestellt war. Gebäude wurden mit zwei Metern Wasser überschwemmt, obwohl diese Gebiete als außerhalb der Hochwassergefahrenzone markiert waren. Dies wird in Wallonien jetzt adressiert, da aktualisierte Hochwassergefahrenkarten nun extremere Szenarien enthalten, die zuvor ausgeschlossen waren. 


Diese extremen Szenarien, mit einer niedrigen Eintrittswahrscheinlichkeit (zum Beispiel einmal in 1000 Jahren), werden auf der Karte eine breitere überflutete Fläche zeigen. Dies bedeutet nicht, dass das Bauen dort eingeschränkt werden sollte, aber die Menschen sollten sich des Risikos bewusst sein. Dieses Bewusstsein trägt zu einer besseren Risikokultur bei und spiegelt die positive Richtung wider, die Wallonien bei diesen Entscheidungen einschlägt.“ 

Welche Lehren aus Ihrer Forschung zu den Überschwemmungen im Jahr 2021 können in den JCAR-Trassen für grenzüberschreitende Flusseinzugsgebiete weiter ausgearbeitet werden?

„Zum ersten Mal haben wir in Belgien Umfragen durchgeführt, um Informationen über Hochwasserschäden und erklärende Variablen zu sammeln. Im Rahmen von JCAR ATRACE vergleichen wir diese Daten nun mit ähnlichen Daten aus Deutschland und den Niederlanden. Soweit ich weiß, ist dies das erste Mal, dass ein solcher Vergleich über diese drei Länder hinweg durchgeführt wird. Es wird zeigen, ob sich die Hochwasserschadensmechanismen je nach Land unterscheiden, und wir erwarten einige Unterschiede aufgrund der Variationen in der Hochwasserintensität. 


Beispielsweise waren die Überschwemmungen in einigen Regionen Deutschlands extremer als in anderen, während die Überschwemmung in Valkenburg, Niederlande, weniger schwerwiegend war. Je nach Schwere des Hochwassers variieren die Schlüsselvariablen zur Vorhersage von Hochwasserschäden. Diese Art von Forschung ist nur in einem Programm wie JCAR ATRACE möglich, das internationale Zusammenarbeit fördert. 


Eine weitere Lehre aus unserer früheren Forschung ist die kritische Bedeutung des Datenaustauschs. Daten müssen in kompatiblen Formaten gesammelt und strukturiert werden, was Zeit benötigt. Beispielsweise wurden Hochwasserumfragedaten in verschiedenen Regionen unterschiedlich erfasst, und die Kompatibilität fügt erheblichen Mehrwert hinzu, da so Lehren über Länder hinweg gezogen werden können.“ 

Welche Themen sind für Ihr Institut interessant, um mit Partnerinstituten im Rahmen des JCAR-Programms zusammenzuarbeiten?

„Es gibt mehrere Themen. Erstens wird sich mein Kollege Dr. Sébastien Erpicum zusammen mit der TU Delft und der RWTH Aachen mit der Auswirkung von Treibgut auf Brücken beschäftigen. Wir werden auch die Schadensmodellierung und die Schätzung von Hochwasserverlusten fortsetzen und mit der VU Amsterdam, dem GFZ Forschungszentrum in Potsdam und der Universität Potsdam zusammenarbeiten. Dies wird der Schwerpunkt einer von JCAR an der Universität Lüttich finanzierten Promotion sein, die eine transnationale Perspektive einnimmt, da bisherige Studien auf einzelne Länder beschränkt waren. Wir wollen unsere Analysen auch auf Wirtschaftszweige ausweiten. 


Ein weiterer langfristiger Schwerpunkt liegt auf naturbasierten Lösungen, die darauf abzielen, Flüssen mehr Raum zu geben und den Wasserfluss zu verlangsamen. Diese Lösungen sind attraktiv, da sie bei extremen Ereignissen tendenziell robuster sind, während graue Lösungen wie Betonwände oder Dämme bei extremen Bedingungen versagen können. 


Es gibt jedoch noch wissenschaftliche Fragen dazu, wie naturbasierte Infrastruktur  in hydrodynamische Modelle integriert werden und wie ihre Leistung im Vergleich zu grauen Lösungen bewertet werden kann. Ein weiteres langfristiges Thema von Interesse ist der Schadstofftransport während Hochwassern, der in aktuellen Modellen selten berücksichtigt wird, aber aufgrund seiner schwerwiegenden Folgen entscheidend ist.“ 

Welchen Mehrwert bietet JCAR ATRACE zur Stärkung der Anpassung und Resilienz in grenzüberschreitenden Flusseinzugsgebieten in den Benelux-Ländern und den Nachbarländern?

„Mehrere Expertenkommissionen und parlamentarische Anhörungen nach den Überschwemmungen im Jahr 2021 haben zu Recht eine verstärkte grenzüberschreitende Zusammenarbeit empfohlen, da Wasser an den Grenzen nicht Halt macht. JCAR ATRACE beschleunigt diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Regionen und macht einen echten Unterschied bei der Bewältigung dieser Herausforderungen. Traditionell verlief der Prozess der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit langsam und stützte sich stark auf gelegentliche Treffen oder Projekte. JCAR ATRACE hingegen beschleunigt diesen Prozess, indem es eine strukturierte Plattform für eine kontinuierliche Zusammenarbeit bietet. 


Darüber hinaus legt JCAR ATRACE auch Wert auf Mentoring, Schulungen und Kapazitätsaufbau. Diese Bemühungen stellen sicher, dass Wasserwirtschaftler und Interessengruppen besser darauf vorbereitet sind, die aktuellen und dringenden Fragen zur Hochwasserbewirtschaftung und Katastrophenvorsorge zu beantworten. 


Ähnlich wie das Internationale Maas-Symposium, das wir jährlich organisieren, um Interessengruppen aus Wissenschaft und Wasserwirtschaft zusammenzubringen, fördert JCAR ATRACE eine ähnliche Zusammenarbeit. Während das Maas-Symposium jedoch nur einmal im Jahr stattfindet, ermöglicht JCAR ATRACE den Experten, das ganze Jahr über zusammenzuarbeiten, was sicherstellt, dass diese Zusammenarbeit dynamisch bleibt und auf neue Herausforderungen reagiert. Diese fortlaufende Zusammenarbeit stärkt die Anpassung und Resilienz in den grenzüberschreitenden Flusseinzugsgebieten der Region.“ 

Teile diesen Artikel